"Psychotherapeuten üben die Heilkunde unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Standards aus". Diese Verpflichtung findet sich an vorderster Stelle, in §1 der Berufsordnung für Psychotherapeut*innen.
Das bedeutet: Alle approbierten Psychotherapeut*innen, egal ob sie in einer Klinik oder in einer Praxis arbeiten, in Verhaltenstherapie, psychoanalytisch begründeten Verfahren oder Systemischer Therapie ausgebildet sind, müssen den Stand der Forschung kennen und danach handeln (vgl. Schulte 1998).
Das ist die Theorie; die in Deutschland tatsächlich durchgeführten Behandlungen orientieren sich nicht immer an wissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. Padberg 2012).
In den vergangenen Jahren wurden weltweit viele Studien durchgeführt, um psychische Erkrankungen besser zu verstehen, neue Therapiemethoden zu entwickeln und deren Wirksamkeit zu überprüfen.
Auf diese Weise gibt es in einigen Bereichen Fortschritte in der Psychotherapie: Es ist "durch eine enorme Zahl wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa in der neurobiologischen und molekularbiologischen Grundlagenforschung, der Epigenetik, Bindungs- und Säuglingsforschung sowie der Stressforschung zu einem weitreichenden Wissenszuwachs im Bereich der Psychosomatischen Medizin gekommen, der fast schon den Charakter eines Paradigmenwechsels hat" (Egle et al. 2020).
Auch in Deutschland findet klinische Forschung im Bereich psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen statt, z.B. am Zentralinstitut für seelische Gesundheit. Das Ziel ist die Translation, also das Übersetzen von Forschungsergebnissen in die konkrete Behandlung von Patient*innen.
Zum wissenschaftlichen Vorgehen gehört auch, die Lücken und Limitationen des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns anzuerkennen. "Ich war 13 Jahre lang im NIMH und habe alles daran gesetzt, die Neurophysiologie und Genetik psychischer Krankheiten aufzuklären. Und wenn ich heute darauf zurückschaue, habe ich es geschafft, unter Einsatz von sehr viel Geld wirklich coole Paper von wirklich coolen Wissenschaftlern zu veröffentlichen. […] Wir haben es dadurch leider nicht geschafft, auch nur einen einzigen Suizid zu verhindern, Krankenhaustage zu verringern oder die Heilungschancen der Millionen Betroffenen zu verbessern" (Hasler 2015), sagte der Direktor des National Institute of Mental Health Thomas Insel bei seinem Rücktritt.
Was sind verlässliche Quellen für die aktuellen wissenschaftlichen Standards?
Diagnostik und Therapien müssen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen § 2 Abs. 1 SGB 5