Medikamentöse Behandlung

Ich bin kein Arzt und ich führe keine medikamentöse Behandlung durch. Als Psychotherapeut kenne ich aber die wissenschaftlichen medizinischen Leitlinien. Meine Behandlungsempfehlungen richten sich nach diesen Leitlinien.

 

Die meisten Eltern sind sehr skeptisch bis klar ablehnend eingestellt gegenüber einer medikamentösen Behandlung ihres Kindes oder Jugendlichen. Wenn dies in Fürsorge um das Kind begründet ist, ist dies anerkennenswert. Dennoch gibt es psychische Erkrankungen bei denen die Fürsorge darin besteht, sich über eine medikamentöse Behandlung durch einen Arzt informieren zu lassen. Als Beispiel ist die medikamentöse Therapie bei ADHS aufgeführt.


Pflicht durch die Berufsordnung

Psychotherapeuten müssen Ärzt*innen hinzuzuziehen, wenn deren berufliche Kompetenzen erforderlich sind - die Einwilligung von Patient*innen vorausgesetzt (§5 Abs. 7 Berufsordnung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer)


Medikamentöse Therapie am Beispiel 'ADHS'

Über das Thema ADHS und ADHS-Medikation gibt es im Internet eine unüberschaubare Zahl an Informationen, darunter auch Falschinformationen. Leider muss man davon ausgehen, dass auch Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, nicht immer aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die Thematik kennen.


Kontroverse und Behandlungsfehler

Es verwundert, "dass selbst Experten allzu leichtfertig von einer medikamentösen Therapie abraten und so getan wird, als seien andere wirksamere Interventionen vorhanden. Das prinzipielle Nichtbeachten medikamentöser Interventionsmöglichkeiten ist nach den vorliegenden empirischen Befunden ein Kunstfehler, wenn alternative Therapien sich als nicht erfolgreich erweisen" (Döpfner et al. 2019).

 

Dennoch gibt es einige Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen in Deutschland, die ganz andere Meinungen vertreten und den Nutzen von Medikamenten grundsätzlich kritisieren. Die Psychoanalytikerin Adelheid Staufenberg meint zum Beispiel, dass "ADHS-Kinder mit extrem schwerer Ausprägung der Symptomatik ohne Medikation (...) geheilt" werden könnten. Andere sind der Meinung, ADHS gibt es gar nicht, sondern sei eine "böswillige Erfindung von gewinnorientierten Pharmakonzernen".

 

Der Psychoanalytiker Rolf Haubl sagt, es gebe eine "Enthemmung des Ritalingebrauchs", Eltern würden ihre gesunden Kinder mit Ritalin dopen, Ärzt*innen würden gutgläubige Mütter unter Druck setzen, ihren Kindern Medikamente zu geben. "So ist der Pharmaindustrie an einer Ausweitung der Diagnose gelegen, weil das ihre Profite steigert" (Haubl & Liebsch 2010).


Ratgeber ADHS

Zwischen 70% und 90% der Kinder (älter als vier Jahre) sprechen auf eine medikamentöse Behandlung positiv an. "Am erfolgreichsten ist die Therapie mit Medikamenten, welche die Aktivität des Gehirns steigern. Diese Medikamente wirken also nicht dämpfend, sondern im Gehirn aktivierend" (Döpfner et al. 2019). Sie werden deswegen Stimulanzien genannt. Zu ihnen gehören:

  • Methylphenidat. Handelsnamen sind z.B. Ritalin®, Medikinet®, Equasym®, Concerta®.
  • Dexamphetamin bzw. Lisdexamphetamin: Handelsnamen sind z.B. Attentin®, Elvanse®.

"Psychostimulanzien werden auf einem speziellen Rezept verordnet, um den Missbrauch dieser Medikamente auszuschließen. Die Medikamente machen aber nicht körperlich abhängig". Es gibt Psychostimulanzien mit kurzer Wirkdauer bei denen etwa zwei bis vier Stunden lang ist die Wirksamkeit am größten ist und solche mit längerer Wirkdauer.

 

Außerdem gibt es zwei weitere Medikamente mit anderen Substanzen:

Bei Atomoxetin und Guanfacin ist die Wirksamkeit generell etwas geringer als bei den Psychostimulanzien. Ihre Wirkung tritt nicht schon am ersten Tag der Einnahme ein, sondern meist erst nach drei bis sechs Wochen. Beide Medikamente müssen nicht auf einem besonderen Rezept verordnet werden.

 

Die Wirkung der Medikamente hält generell nur solange an, wie das Medikament gegeben wird. "Solche Medikamente sind natürlich keine Wundermittel. Durch Medikamente lernt das Kind nichts hinzu. Sie vermindern lediglich die Auftretenswahrscheinlichkeit problematischer Verhaltensweisen."

 

"Die Nebenwirkungen sind in der überwiegenden Zahl der Fälle gering. Sie treten häufig nur vorübergehend auf und verschwinden fast immer mit dem Absetzen der Medikation... Die häufigsten Nebenwirkungen sind eine Verminderung des Appetits und Schlafstörungen."


Bedenken wegen Drogenmissbrauchs

"Jugendliche mit ADHS beginnen früher zu rauchen und konsumieren insgesamt mehr Tabak als Gleichaltrige. Auch zeigt sich im Erwachsenenalter eine erhöhte Rate Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bei von ADHS-Betroffenen" (Leitlinie ADHS). Eltern dieser Jugendlichen haben oft Bedenken, dass eine ADHS-Medikation den Drogenmissbrauch verstärken kann. Jedoch konnten mehrere Studien zeigen: "Die Behandlung mit Stimulanzien kann das Risiko der Entwicklung einer Substanzabhängigkeit reduzieren".

 

Bezüglich einer medikamentösen Therapie rät die Leitlinie in diesen Fällen, "langwirksame Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin oder Guanfacin" zu wählen.


Behandlungs-Algorithmus laut Leitlinie

Die Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von ADHS sieht generell vor:

  • Ein Behandlungsplan soll erstellt werden. Die Behandlung kann bestehen aus einer psychosozialen Hilfe (z.B. Psychotherapie), einer medikamentösen Therapie sowie aus ergänzenden Interventionen.
  • Eine umfassende Psychoedukation ist notwendig.

Behandlungsempfehlungen unterscheiden sich nach Alter und Schwergrad:

  • Bei unter 6jährigen sollen primär verhaltenstherapeutische Methoden eingesetzt werden.
  • Bei leichtem ADHS sollen primär verhaltenstherapeutische Methoden (z.B. Interventionen in der Familie und in der Schule) eingesetzt werden.
  • Bei mittelschwerem ADHS sollen verhaltenstherapeutische Methoden (z.B. Interventionen in der Familie und in der Schule) eingesetzt werden oder eine Medikation oder eine Kombination aus beidem.
  • Bei starkem ADHS soll primär eine Medikation angewendet werden. Diese kann ergänzt werden durch verhaltenstherapeutische Methoden (z.B. Interventionen in der Familie und in der Schule).

Medikamentöse Therapie am Beispiel 'Depression'

Im Jugendalter

"Die medikamentöse Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher dient in erster Linie der Unterstützung der Psychotherapie (...). Bei schwerer Depression können sie dazu beitragen, die Stimmung aufzuhellen, den Antrieb zu steigern und Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit oder Leeregefühle zu reduzieren" (Ihle et al. 2012).

 

Diese Effekte ermöglichen oft erst, dass Patient*innen überhaupt durch eine Psychotherapie profitieren können. Denn eine Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist eine Hilfe zur Selbsthilfe, sie erfordert eine aktive Mitarbeit in den Therapiestunden vor allem Verhaltensänderungen im Alltag. Psychotherapie während einer akuten schweren Depression ist nur eingeschränkt indiziert, allenfalls als zusätzliche Maßnahme "nachrangig zur medikamentösen Behandlung" (Harrington 2013).

 

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gelten als Mittel der Wahl bei der medikamentösen Behandlung depressiver Störungen im Kindes- und Jugendalter. Der am meisten verordnete Arzneistoff ist Fluoxetin. Fluoxetin gilt als vergleichsweise wirksam, verträglich und nebenwirkungsarm. Die Nebenwirkungen verschwinden meistens nach den ersten Wochen der Einnahme. Auch in Fällen, in denen diese Antidepressiva über eine lange Zeit eingenommen werden, machen sie nicht süchtig.


Im Erwachsenenalter

Die Behandlung einer Depression lässt sich in drei Phasen aufgliedern:

  1. Akuttherapie
  2. Erhaltungstherapie in der Phase der Remission. Eine Remission ist ein weitgehend symptomfreier Zustand.
  3. Rezidivprophylaxe. Ein Rezidiv ist das Wiederauftreten einer depressiven Episode nach vollständiger Genesung.

Die Behandlungsempfehlungen der Leitlinie Unipolare Depression differenzieren u.a. nach dem Schweregrad, der Dauer, dem Verlauf und der Komorbidität:

  • Akute leichte depressive Episode: Eine aktiv abwartende Begleitung kann ausreichend sein.
  • Akute mittelgradige depressive Episode: Patient*innen soll eine medikamentöse Therapie mit einem Antidepressivum angeboten werden.
  • Akute schwere depressiven Episoden: Es soll eine Kombinationsbehandlung mit medikamentöser Therapie und Psychotherapie angeboten werden.
  • Bei einer chronischen (mehr als 2 Jahre persistierenden) depressiven Episode sollte eine pharmakologische Behandlung angeboten werden.
  • Komorbiditäten: Zum Beispiel bei einer Komorbidität von depressiver Episode und Bulimia nervosa sollte eine Pharmakotherapie (empirische Belege liegen für Fluoxetin vor) zur Verbesserung der depressiven Symptomatik angeboten werden.

Erhaltungsphase: Antidepressiva sollen mindestens 4 bis 9 Monate über die Remission einer depressiven Episode hinaus eingenommen werden, weil sich hierdurch das Risiko eines Rückfalls erheblich vermindern lässt. Dabei soll die gleiche Dosierung wie in der Akutphase fortgeführt werden.


Wissenschaftliche Lücken

"Über die Mechanismen, durch welche die Wirkung der Antidepressiva zustande kommt, besteht weiterhin Unklarheit. Daher ist es bis heute nicht möglich, verlässlich vorauszusagen, ob und wann ein bestimmter Patient auf ein 

bestimmtes Antidepressivum ansprechen wird" (AWMF 2015). Die früher propagierte Serotonin-Hypothese ist nicht plausibel (Padberg 2018). Diese "verlockend einfache Erklärung" (Deeg 2020) stammt aus dem Jahr 1969.

Wer kann eine Behandlung mit Medikamenten durchführen?

Empfehlenswert ist es, wenn die medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen durch Spezialist*innen erfolgt:

  • Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie bzw.
  • Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Arztsuche der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg:

  • In Eisenhüttenstadt gibt es einen Facharzt für Psychiatrie: B. Choucair
  • In Frankfurt (Oder) gibt es eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie: Eliska Reinhold

Was ist ein Off-Label-Use?

Leitlinien beinhalten teilweise Empfehlungen zur Medikation und einen möglichen Einsatz von Medikamenten ohne Zulassung für den jeweiligen Indikationsbereich (off-label-use). Ein solcher Einsatz ist nur statthaft, wenn folgende Kriterien berücksichtigt werden:

 

1. Nachgewiesene Wirksamkeit: Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse muss die begründete Aussicht bestehen, dass die Behandlung zu einem Erfolg führt.

2. Günstiges Nutzen-Risiko-Profil.

3. Fehlende Behandlungsalternative.

 

Darüber hinaus besteht eine besondere Aufklärungspflicht durch Ärzt*innen. Link: „Off-Label-Use“: Worauf muss man achten? (gesundheitsinformation.de)