Systemische Therapie


Die Entstehung der systemischen Therapie

Die systemische Therapie hat sich aus der Familientherapie entwickelt. Eine Gründerfigur der Familientherapie ist Virginia Satir. Die systemische Therapie sollte Klient*innen helfen, die durch bisherige Ansätze (z.B. die psychoanalytisch begründete Psychotherapie) nicht profitieren konnten. Dazu zählte man Patient*innen, die wenig "Innenschau" (Introspektion) betrieben und deren Probleme durch schwierige soziale Umstände verursacht waren. Die Familientherapeut*innen nutzen neue Konzepte zur Beschreibung, Erklärung und Veränderung von Problemen.


Die theoretischen Grundlagen der Systemischen Therapie

Eine Grundlage der systemischen Theorie ist die Systemtheorie (altgriechisch sýstēma „aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes“). Ein System kann als eine Gruppe von Elementen verstanden werden, die durch Beziehung verbunden sind, nach einer Weile ein Muster ausbilden und durch eine Grenze von der Umwelt getrennt sind. Bei Menschen lassen sich drei Systeme unterscheiden:

 

(1) Soziales System (Kommunikation)
(2) Psychisches System (Gedanken und Gefühle)

(3) Biologisches System (Hormone, Neurotransmitter).

 

Die Systemtheorie baut auf mehreren unter anderem philosophischen Ansätzen auf, die zusammengeführt wurden. Stark verkürzt und vereinfacht sind dies:


Kybernetik

Die Kybernetik untersucht unterschiedliche Systeme hinsichtlich selbsttätiger Regelungs- und Steuerungsmechanismen: Ein technisches Beispiel ist das Thermostat einer Heizung. Es vergleicht den Ist-Wert mit dem Soll-Wert und beinhaltet einen Regler der auf Abweichungen reagiert. So bleibt es bei einer gleichbleibenden Temperatur, einem Zustand der Homöostase.

 

Diese Regelungs- und Steuerungsmechanismen führen zur Selbstorganisation von Systemen. 

 

Bedeutsame Überlegungen hierzu stammen von den Macy-Konferenzen und Personen wie Gregory Bateson


Zirkularität

Das Resultat von Rückkopplungsprozessen ist Zirkularität. Insbesondere komplexe Systeme können nicht angemessen durch gradlinige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (linear-kausal) verstanden werden. Dies führe nur zu einer unzulässigen Komplexitätsreduktion.

 

Paul Watzlawick erklärt Zirkularität in der menschlichen Kommunikation: Eine Frau schimpft mit ihrem Mann, weil er Alkohol trinken würde; der Mann sagt, er trinke Alkohol, weil seine Frau so viel mit ihm schimpft.


Kybernetik zweiter Ordnung

Die Kybernetik zweiter Ordnung lässt sich so zusammenfassen: "Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt". Sie wurde von Heinz von Foerster ausgearbeitet und wird auch Kybernetik der Kybernetik genannt. 

 

"Die Wirklichkeit, so wie wir sie wahrnehmen ist unsere Erfindung" (von Foerster). Es gibt allerdings einen Unterschied zum Konstruktivismus: Der Konstruktivismus würde sagen, man kann Gedanken als Konstruktionen eines Beobachters beobachten; die Kybernetik zweiter Ordnung aber sagt, dass der beobachtende Beobachter sich selbst als Beobachter beobachtet.


Autopoiese

Autopoiese meint die Selbstorganisation und Selbstbezüglichkeit eines Systems. Der Begriff geht auf Humberto Maturana und Francisco Varela zurück. Sie postulierten: Das Nervensystem von Menschen hat keinen unmittelbaren Bezug zur Außenwelt, sondern entwirft sein eigenes Bild der umgebenden Welt. Im Gehirn ist die mit Abstand größte Zahl an Neuronen mit der internen Signalverarbeitung befasst statt mit der Ein- und Weiterleitung von Signalen.

 

Erleben sei also nicht abhängig von äußeren Reizen oder durch das, was man in der Vergangenheit erlebt habe. Erleben werde stattdessen immer neu hergestellt in der Gegenwart. Auch Kommunikation sei ein selbstreferenzielles, autopoietisches System: Kommunikation beziehe sich nie auf die Umwelt oder die Wirklichkeit, sondern nur auf wahrgenommene innere Abbildungen der Umwelt. 


Radikaler Konstruktivismus

Radikaler Konstruktivismus meint, dass die persönliche Wahrnehmung nicht das Abbild der Realität sein kann, welche unabhängig von der Person besteht. Realität ist für jeden Menschen immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung. Der Begriff geht auf Ernst von Glasersfeld zurück.


Konsequenzen der theoretischen Konzepte für die Psychotherapie

In der systemischen Therapie werden die oben genannten Konzepte zusammengeführt. Dadurch ergeben sich bedeutende Konsequenzen wie zum Beispiel:

 

(1) Psychotherapeut*innen sind keine Expert*innen: „Wenn alles, was gesagt wird, von und zu einem Beobachter gesagt wird [...] , dann ist jeder Berater selbst Teil der von ihm konstruierten Wirklichkeit und verliert damit seinen Expertenstatus gegenüber den zu beratenden Systemen“ (Schmidt & Vierzigmann 2006).

 

(2) Psychotherapie kann nicht objektiv sein: Es ist unmöglich, objektive und wahre Aussagen zu treffen. Daher kann es keine Antwort darauf geben, ob eine Person wirklich z.B. eine Depression hat. In der Systemischen Therapie gelten diese Begriffe außerdem als problematisch, da sie zu einer Verdinglichung führen, wobei es sich doch um Erleben handelt, das von der Person hergestellt wird, zudem in einem bestimmten Kontext. „Die Störungsmethapher trägt ein Risiko in sich: Sie kann den, der sie verwendet zu einer Fokussierung auf defizitäre Konstellationen einladen“ (Schlippe & Schweitzer, 2003). Systemische Lehrbücher verwenden oftmals Anführungszeichen um zu verdeutlichen, dass es sich lediglich um Konstrukte handelt: Sie sprechen nicht von einem Störungsbild, sondern vom einem "Störungsbild". 

 

(3) Psychotherapie kann nicht planmäßig wirksam sein in Bezug auf Patient*innen: Psychotherapeut*innen können grundsätzlich nicht zielgerichtet einwirken auf Patient*innen. "Daher kann jegliche (auch systemische) Therapie nur günstige (versichernde, Mut machende, anregende und irritierende) Randbedingungen für die im Rahmen der Autopoiese des Patientensystems möglichen autonomen Lösungen anbieten" (Schweitzer et al. 2020). Grundelemente der Systemischen Therapie sind: "Wertschätzender Humor, Spaß an freundlicher Absurdität und an ungewöhnlichen Experimenten" (ebd.).

 

(4) Patient*innen sind Kund*innen / Klient*innen: Denn Begriffe wie Patient oder Krankheit sind Konstrukte, die selbst zum Problem werden können. "Systemische Therapie erzeugt hohe Kundenzufriedenheit", schreibt die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).

 

(5) Es wird nicht nur eine Person behandelt: Ein sogenannter identifizierter Patient oder Problemträger ist ein Familienmitglied, das mit seinen präsentierten Symptomen den Anlass gibt, eine Psychotherapie aufzusuchen. Das bedeutet aber nicht, dass nur dieser Patient behandelt wird. Bezugspersonen wie Partner, Freunde und Familienmitglieder werden in die Therapie einbezogen.


Kritik der philosophischen Positionen

Die philosophischen (erkenntnistheoretischen) Annahmen, auf denen die Systemische Therapie beruht, bleiben nicht ohne Kritik. Gegen den Relativismus des Radikalen Konstruktivismus gibt es Einwände. Zum Beispiel gegen den Neurozentrismus wurde eingewendet, dass die Argumentation ihrer Anhänger auf Fehlschlüssen (z.B. Non sequitur) beruht. Gegen den Konstruktivismus richtet sich unter anderem der Naive Realismus. Realisten meinen, dass es die Realität tatsächlich gibt und wir sie so erkennen können, wie sie ist. 

 

Als "Neuer Realismus" gilt eine philosophische Strömung, die durch Markus Gabriel einer größeren Öffentlichkeit näher gebracht wurde (z.B. Wider die postmoderne Flucht vor den Tatsachen). Unsere Kultur befreien von Irrtümern und Fehlschlüssen des Zeitgeists, sodass man gemeinsam besser handeln kann, das ist Gabriels Vision der Philosophie. Er widerspricht dem Konstruktivismus: Das Gehirn ist der Empfänger von Wirklichkeit und nicht der Produzent von Wirklichkeit; das Gehirn empfängt eine von ihm unabhängig existierende Wirklichkeit. Markus Gabriel kritisiert Kants Position der Unerkennbarkeit der Welt.

 

Warum es die Welt nicht gibt erklärt Gabriel: "Die Welt" als Totalität existiere zwar nicht; was aber existieren würde, seien unzählige Perspektiven auf die Welt („Sinnfelder“). "Wir denken oft, dass es eine einzige Wirklichkeit gibt. Wir sagen: <In Wirklichkeit gibt es keine Feen, Hexen oder Einhörner.> Wenn wir aber über Einhörner nachdenken oder Geschichten von ihnen erzählen, existieren sie zumindest in unseren Gedanken. Der Neue Realismus fragt: Warum sollte eine Existenz in Gedanken weniger real sein als eine Existenz im physikalisch ausgedehnten Universum?"

Weitere wichtige Konzepte der Systemischen Therapie

Lösungs- und Ressourcenorientierung

Ein wichtiges Konzept ist das lösungs- und ressourcenorientiertes Vorgehen. Menschen tragen nach diesem Ansatz die Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme bereits in sich. Folgt man diesem Konzept, ist das Motto der Psychotherapie: "Über Probleme zu sprechen, erzeugt Probleme; über Lösungen zu sprechen, erzeugt Lösungen."

 

Den größten Einfluss für die Entwicklung dieses Konzeptes stammt von Steve de Shazer, der gemeinsam mit seiner Frau Insoo Kim Berg die Lösungsorientierte Kurztherapie entwickelte. Zentrales Element dieser Therapie ist die Einfachheit ("Simplicity"): Komplexe Problemlagen erfordern nicht komplexe Lösungen, sondern simple konkrete Schritte.


Modelle der Kommunikation

"Erst wenn ich sehe, wie andere auf mich reagieren, weiß ich, was ich gesagt habe".

Für die systemische Therapie spielen Kommunikationsmodelle eine bedeutende Rolle: Kommunikation wird als Mitteilung verstanden im Sinne eines Interaktionsprozesses zwischen Menschen.

 

Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist Paul Watzlawick mit Werken wie Die erfundene Wirklichkeit oder Anleitung zum UnglücklichseinMetakommunikative Axiome von ihm sind:

  1. "Man kann nicht nicht kommunizieren".
  2. Jede Mitteilung hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt.
  3. Interpunktion: Kommunikation ist eine kreisförmig verlaufende Interaktion, aber subjektiv erleben Teilnehmer*innen Kommunikation anders: Als Ereignisse mit Auslösern und Reaktionen.
  4. Kommunikation ist digital und analog: Bei der analogen Kommunikation geht es um die nonverbale Kommunikation, also z.B. die Körpersprache und den Tonfall.
  5. Kommunikation ist symmetrisch oder komplementär: Die Interaktion der Gesprächspartner verläuft gleichrangig und spiegelbildlich oder nicht gleichrangig, sodass sich die Gesprächspartner polarisieren.

Vortrag aus dem Jahr 1987: Wenn die Lösung das Problem ist

Interventionen der Systemischen Therapie

Es gibt eine Vielzahl systemischer Interventionen wie z.B.:


Auftragsklärung: Es wird viel wert gelegt auf die Klärung des Auftrages von Patient*innen »Warum kommen Sie gerade jetzt?« / »Was soll anders werden?« / »Was kann ich dabei für Sie tun?«

 

Mehrgenerationenperspektive / Genogramm: Im Genogramm, einem familienpsychologischen Familienstammbaum, werden wichtige familiäre Beziehungen über mehrere Generationen hinweg dargestellt. Es kann hierbei z.B. darauf geachtet werden, welche Funktion das Symptome als Lösungsversuch familiärer Probleme verstehbar werden.

 

Fragen: Durch sie werden Beziehungsmuster erkennbar, sie können aber auch der Veränderung dienen: "Woran wirst Du merken, dass sich unsere Gespräche lohnen?"

 

Zirkuläre Fragen: "Was würde Deine Mutter sagen, wie es dir geht?"

 

Ausnahmefragen: "Wann tritt das Problem nicht auf?".

 

Wunderfrage: "Stell Dir vor, heute Nacht, während du schläfst, geschieht ein Wunder, und das Problem, das Dich gerade beschäftigt, ist verschwunden. Woran würdest Du das merken?"

 

Verschlimmerungsfragen: "Was müssen Sie tun, um Ihr Problem zu behalten, oder die Lage sogar noch zu verschlimmern?"

 

Skalierungsfragen: "Wie würden Sie auf einer Skala von 0 bis 10 Ihre aktuelle Zufriedenheit in der Familie einschätzen?" 

 

Skulptur / Familienaufstellung: Beziehungsmuster können nicht nur im Gespräch dargestellt werden. Familienmitglieder können sich im Raum zueinander aufstellen in Form einer menschlichen Skulptur. Wenn dies stellvertretend für andere Personen geschieht, spricht man von einer Familienaufstellung. Möglich ist zudem die Nutzung von einem Systembrett.

 

Positive Konnotation: Dies meint die wertschätzende Beschreibung von Verhaltensweisen, Symptomen und Interaktionen, die üblicherweise als problematisch definiert werden. Dies kann auch als  Umdeutung (Reframing) bezeichnet werden. Man geht davon aus, dass ein Problemverhalten in anderen Kontexten sinnvoll sein kann. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass es für jedes Problemverhalten eine gute Absicht oder einen positiven Zweck gibt.

 

Paradoxe Intervention / Symptomverschreibung: Patient*innen bekommen den Auftrag, ihre Problematik absichtlich hervorzurufen und auszuleben.

 

Externalisierung: Ein Symptom wird so betrachtet, als sei es außerhalb der Person (z.B. "das Monster namens Angst kommt wieder kommt").

 

Konstrukt-Operationalisierung: Anstelle der Nutzung von Konstrukten ("Ich habe eine Angststörung"), wird auf das Handeln, das Tun und Lassen fokussiert (z.B. "Ich gehe vermeide es, mit anderen zu sprechen").

 

Arbeit mit Ambivalenzen: Patient*innen sind typischerweise ambivalent eingestellt hinsichtlich, da ein Problemverhalten Leid mit sich bringt, aber es dennoch Gründe gegen eine Veränderung gibt. Dazu dient die Metapher des Inneren Teams: Die Mitglieder dieses Teams sind sich nicht einig.


Beispiele für Systemiker*innen

Hans Lieb ist Verhaltenstherapeut und Systemischer Therapeut. Er versteht sich als Brückenbauer zwischen beiden Ansätzen und hat viele Publikationen zu diesem Thema verfasst, zum Beispiel über das Konzept der Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie.

 

Gunther Schmidt ist ein Pionier bei der Weiterentwicklung systemischer Ansätze. Er war Teil der sogenannten Heidelberger Gruppe für Familientherapie und systemischen Therapie um Helm Stierlin. Er förderte die Integration systemischer Ansätze mit der Hypnotherapie von Milton Erickson: Die hypnosystemische Therapie. Die gesamte Therapie ist eine Form der Aufmerksamkeitsfokussierung, hin zu unbewussten Kompetenzen und konsequent kompetenz-, ressourcen- und lösungsorientiert.


Das nachfolgende Video der Internationalen Gesellschaft für systemische Therapie zeigt ein paar Statements von systemischen Therapeut*innen:


Fachliteratur & Links

Arist von Schlippe & Jochen Schweitzer (2016): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen

 

Jochen Schweitzer & Arist von Schlippe (2015): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen

 

Lieb & Rotthaus: Buchreihe "Störungen systemisch behandeln"

 

„Heilung als Gemeinschaftsleistung “ von Prof. Jochen Schweitzer