Psychoanalytische Verfahren

Die psychoanalytisch begründeten Verfahren werden tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie genannt. Zusammen nennt man sie psychodynamische Verfahren.

 

Sie gehen zurück auf das Paradigma (die Denkweise und Weltanschauung) von Sigmund Freud. Freud wendete jedoch ein: <<Wenn es ein Verdienst ist, die Psychoanalyse ins Leben gerufen zu haben, so ist es nicht mein Verdienst>>. Denn <<ein anderer Wiener Arzt, Dr. Josef Breuer>> habe die Psychoanalyse zuerst an einem hysterischen Mädchen angewendet.


Die grundlegende Hypothese psychoanalytischer Verfahren

... zur Ursache psychischer Erkrankungen

Eine Hypothese bildet die Grundlage aller psychoanalytischer Verfahren: Die <<Ursachen des Verhaltens und psychischer Störungen liegen in intrapsychischen, zumeist unbewussten Kon­flikten, Impulsen und Prozessen (Instinkte, biologische Triebe, Gedanken, Emotionen), die häufig auf frühkindliche Konflikte rückführbar sind>> (Wittchen & Hoyer 2011).

 

... zur Behandlung psychischer Erkrankungen

Von dieser Hypothese über die Ursachen psychischer Störungen, wird eine weitere Hypothese über die erforderliche Therapie abgeleitet: Das Aufdecken unbewusster Prozesse. Freud: <<Man beginnt damit, den Kranken erzählen zu lassen, was er weiß und erinnert, wobei man bereits seine Aufmerksamkeit dirigiert und durch Anwendung der Druckprozedur leichtere Widerstände überwindet.>>

 

<<Der Breuersche Fund ist noch heute die Grundlage der psychoanalytischen Therapie. Der Satz, dass die Symptome verschwinden, wenn man ihre unbewussten Vorbedingungen bewusstgemacht hat, ist durch alle weitere Forschung bestätigt worden>>, schrieb Freud.


Der Mythos Sigmund Freud

Freuds Biographie ist eng verwoben mit der Entwicklung seiner Hypothesen. Schon vor seinem 29. Geburtstag war er sich sicher: Sein Lebenswerk wird eines Tages von Biographen niedergeschrieben. Er wollte sichergehen, was die Nachwelt von ihm weiß, was ihn zu einer großen Vernichtungsaktion brachte:

 

<<Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit vierzehn Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeit vernichtet (...) Die Biographen sollen sich plagen, wir wollen's ihnen nicht zu leicht machen>>.

 

Freuds Mutter war schon in frühester Kindheit davon überzeugt, dass Sigmund eines Tages als Genie großen Ruhm erlangen würde. <<Meine Stärke wurzelt in meinem Verhältnis zur Mutter>>, bestätigt Freud. <<Sollte meine Größensehnsucht aus dieser Quelle stammen?>>, fragte er. Er sah sich in einer Reihe mit Darwin und Kopernikus, als Entdecker des Geheimnisses des Traumes. Er fragte seinen Freund Wilhelm Fließ: "Glaubst du eigentlich, dass an dem Hause dereinst auf einer Mamortafel zu lesen sein wird: <Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes>"

 

Freud hat allgemeingültige Hypothesen über die Psyche des Menschen aufgestellt - basierend auf persönlichen Beobachtungen. Im Werk Die Traumdeutung erinnerte er sich an die Aussage seines Vaters, <<Aus dem Buben wird nichts werden>> und kommentiert: <<Es muss eine furchtbare Kränkung für meinen Ehrgeiz gewesen sein, denn Anspielungen an diese Szene kehren immer in meinen Träumen wieder>>. Er erklärte: In jedem Traum gehe es um die Erfüllung eigener Wünsche. Diese Wünsche würden aber nur zensiert an die Oberfläche treten, es bedürfe Freuds Wissen, um ihren wahren Inhalt zu erkennen. Meist seien es sexuelle Wünsche. Zum Beispiel: <<Für Wißbegierige bemerke ich, daß hinter dem Traume sich eine Phantasie verbirgt von unanständigem, sexuell provozierendem Benehmen meinerseits>>, schreibt Freud.

 

Freud berichtete von <<Verliebtheit>> in seine Mutter. Er schrieb, wie <<meine Libido gegen matrem erwacht ist, und zwar aus Anlass der Reise mit ihr von Leipzig nach Wien, auf welcher ein gemeinsames Übernachten und Gelegenheit, sie nudam zu sehen, vorgefallen sein muss>>. Ausgehend von seiner persönlichen, kindlichen Fantasie entwickelte Freud die allgemeine Hypothese vom Ödipuskomplex. Er war überzeugt, dass diese Hypothese eine <<große Bedeutung für das Verständnis der Menschheitsgeschichte>> habe. Weitere Hypothesen baute er darauf auf: Die Kastrationsangst, der Penisneid und Homosexualität <<als Abweichung der sexuellen Funktionen, hervorgerufen durch eine gewisse Stockung der sexuellen Entwicklung>>.

 

Öffentlich bezeichnete sich Freud als <<Naturforscher>>, der ein <<wissenschaftliches Verfahren>> begründet habe. Privat äußerte er etwas anderes: Er sei <<gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator>>. Er bezeichnete sich als Konquistador. Hier bröckele Freuds <<Selbstinszenierung und Selbststilisierung als Genius und als Begründer einer ganz und gar neuartigen objektiven Wissenschaft>> (Heinrichs 2001). Man frage sich, <<welches Ausmaß an Abspaltung und Verdrängung ein Forscher zu erbringen hat, der dem Zwang unterliegt, seine radikal neuen Gedanken als objektive Wissenschaft auszugeben und sich dabei letztlich doch bloß als Abenteurer oder verhinderten Literaten versteht>> (ebd.).

 

Hier ist eine Leseprobe, die einen Einblick gibt in Freuds öffentliche Darstellung der Psychoanalyse und seine herausragende Sprachgewalt: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In dem Text erkennt man Freuds raffinerte und kühne Argumentationsweise und seine außergewöhnliche Fähigkeit, mit Sprache umzugehen. Er selbst zählt die Einwände gegen die Psychoanalyse auf, die er sogleich als unbegründete Vorurteile abtut. Er konnte aber nicht verhindern, dass seine Falldarstellungen als Fälschung kritisiert wurden: <<So war auch der berühmte erste Fall, den er gemeinsam mit Breuer behandelte und der so sehr als das Beispiel eines herausragenden therapeutischen Erfolgs gepriesen wird, in Wahrheit nichts dergleichen>>, schrieb Carl Gustav Jung.


Das Freud Museum London lässt in diesem englischsprachigen Video Psychoanalytiker*innen zu Wort kommen zu der Frage: Was ist Psychoanalyse?


Die verschiedenen psychoanalytischen Verfahren

Es gibt nicht die eine Psychoanalyse. Die psychoanalytischen Verfahren umfassen eine <<Vielzahl von Theorien zur Erklärung ein und desselben Phänomens>>, die Widersprüche enthalten, berichtet der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie. Zwar hat Freud <<mit einer geradezu unbarmherzigen Entschiedenheit, seine Vorstellungen und Ideen einer neuen Kulturtheorie und Therapie durchgesetzt>> (Heinrichs): Seine Absicht war es, <<eine Glaubensgemeinschaft mit strikten Methodenvorschriften zu formen und keine Alternativen zur eigenen Sichtweise zuzulassen>> (Fiedler 2012). Deshalb verbannte er 1911 den Abtrünnigen Alfred Adler und 1914 C. G. Jung. Trotzdem: Noch bis weit nach dem zweiten Weltkrieg wurden immer neue tiefenpsychologische Denkschulen gegründet.


Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP)

Die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) geht davon aus, dass Krankheitssymptome die Folge von einem inneren Konflikt sind.

 

Das Ziel der TP ist es, unbewusste innere Konflikte von Patient*innen zu Tage zu befördern ("aufzudecken"). Durch die Einsicht von Patient*innen in die unbewussten Ursachen ihrer psychischen Erkrankung, soll die Erkrankung gelindert werden.

 

Ein Beispiel aus der Literatur für eine "Deutung" durch einen Tiefenpsychologen, der eine unbewusste Ursache einer Problematik erkannt hat: "Vielleicht haben Sie ja nicht nur Angst, die Prüfung nicht zu schaffen, sondern auch davor, es sich mit ihren Kollegen zu verscherzen, wenn Sie so erfolgreich sind?" (Beutel et al. 2020).

 

Die Arbeitsweise von psychoanalytischen Behandler*innen besteht u.a. daraus, Phänomene zu beachten, die sie "Übertragung", "Gegenübertragung" und "Widerstand" nennen (Quelle: Psychotherapie-Richtlinie). Unter dem Begriff Übertragung kann man beispielsweise verstehen, dass sich vergangene Erlebnisse von Patient*innen auch in aktuellen zwischenmenschlichen Situationen wiederholen.

 

Im Unterschied zur analytischen Psychotherapie wird während der TP eher fokussiert auf ein bestimmtes Problem von Patient*innen. Eine TP kann bis zu 100 Therapiesitzungen umfassen im Einzelsetting. Standardmäßig finden 1 oder 2 Termine pro Woche statt.


Analytische Psychotherapie (AP)

Auch bei der analytischen Psychotherapie (AP) spielt das Bewusstmachen von verdrängten Erlebnissen eine zentrale Rolle. Auch hier besteht die Annahme, dass die "Verdrängung" eine zentrale Ursache ist für die psychische Erkrankung. Aber im Gegensatz zur TP hat die AP das größere Ziel, die "neurotische Struktur" des Patienten zu behandeln, statt einen bestimmten Konflikt (Quelle: Informationsblatt Ambulante Psychotherapie). Über die Entwicklung einer "Übertragungsneurose" soll die Persönlichkeit des Patienten verändert werden.

 

Eine AP umfasst bis zu 300 Therapiesitzungen im Einzelsetting (kbv.de). Es finden standardmäßig 3, 4 oder 5 Termine pro Woche statt.

 

Meistens liegen Patient*innen auf der Couch ohne Blickkontakt zu den Psychotherapeut*innen, die Therapeut*innen sprechen nur wenig. Dadurch soll eine "tiefe Regression" erreicht werden, damit mehr unbewusstes Material ans Tageslicht befördert wird. Patient*innen soll ihren Einfällen freien Lauf laufen.


Unterschiede zur kognitiven Verhaltenstherapie (KVT)

Beispiele für die Unterschiede sind:

 

Die Psychoanalyse prägt das Bild von Psychotherapie bis heute: Keine andere Theorie hat mit ihren Begriffen (Verdrängung, Konflikt, Unbewusstes, Durcharbeiten etc.) und Symbolen (von der Couch etc.) so sehr Eingang gefunden in das Allgemeinwissen und das Bild von Psychotherapie wie die psychoanalytische Theorie. Das gilt international: Wenn man Student*innen bittet, sich einen Psychologen auszumalen, fällt den meisten ein Mann ein, oft mit einem Bart und einem deutschen Akzent, sagt der US-amerikanische Psychologie-Professor David W. Martin über seine Erfahrung an der North Carolina State University.

 

Grundlegende vielfältige wissenschaftliche Einwände: Trotz dieser enormen Verbreitung gibt es seit knapp 100 Jahren grundlegende wissenschaftliche Einwände gegenüber den psychoanalytischen Verfahren. "Die hoch komplexen 

und in weiten Bereichen spekulativen psychoanalytischen Theorien" (Wittchen & Hoyer 2011) führten dazu, dass Freud ganze 32 Mal für den Nobelpreis der Medizin nominiert war. Eine Arbeitsgruppe im Jahr 1929 kam abschließend zu dem Urteil, dass seine Theorie nicht wissenschaftlichen Prinzipen entspricht. Stattdessen gewann Freud 1930 den Goethepreis der Stadt Frankfurt, der vor allem an Dichter vergeben wird.

 

Seit vielen Jahrzehnten gibt es grundlegende Kritik an der Psychoanalyse. Veröffentlichungen in Deutschland sind zum Beispiel Der Aberglaube des Jahrhunderts und Tiefenschwindel (Dieter E. Zimmer); in Frankreich Le Livre noir de la psychanalyse mit anschließender Kontoverse in der Zeitung L'Obs und dem Evidenzbericht Psychothérapie: Trois approches évaluées des Institut national de la santé et de la recherche médicale; in den USA beispielsweise Freudian Fraud (E. Fuller Torrey) und Freud: The Making of an Illusion (Frederick Crews). Die Einwände werden von Anhänger*innen der Psychoanalyse oft als unfaires "Freud-Bashing" gesehen (vgl. Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften) und Kritiker*innen wie Michel Onfray pathologische Freud-Hasser bezeichnet.

 

Klinische Psychologie: Die Verhaltenstherapie hat sich entwickelt auf Grundlage der empirischen, experimentellen Forschung. Die Klassische Konditionierung ist ein Beispiel für eine Lerntheorie, die historisch zu den Anfängen der Verhaltenstherapie zählt. Es ist experimentell überprüfbar, ob die Vorhersagen der Klassischen Konditionierung zutreffen.

 

<<Die Psychoanalyse sagt vorher, dass eine dauerhafte Behebung der psychischen Beschwerden nur möglich ist, wenn man die unbewussten beziehungsweise verdrängten Wünsche und Konflikte aufdeckt>> (Macho 2016). Durch die empirische Forschung ist diese Hypothese allerdings widerlegt. Dies führe jedoch nicht zu einer Anpassung oder Verwerfung der Theorie. Auch die aktuellen Psychoanalytischen Leitlinien der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie beinhalten Hypothesen, die als widerlegt gelten. Dort wird beispielsweise die Enkopresis als neurotische Störung gesehen, bei welcher sich Psychotherapeut*innen vor allem "mit der Objektbeziehungsdynamik während der analen psychosexuellen Phase" befassen sollen laut dieser Leitlinie.

 

Ziele der Behandlung: Während es ein Hauptziel der psychoanalytisch begründeten Verfahren ist, die Ursachen einer Problematik aufzudecken, besprechen Verhaltenstherapeut*innen noch vor Beginn der Veränderungsphase (in Phase 5 des 7-Phasen-Modells nach Kanfer) die angenommenen Ursachen der Problematik. Verhaltenstherapeut*innen führen dazu standardmäßig Psychoedukation durch, erstellen mit Patient*innen eine Verhaltensanalyse und erarbeiten gemeinsam das individuelle Störungsmodell.

 

Eine Verhaltenstherapie hat meistens zum Ziel, die Symptome von Patient*innen zu reduzieren. Für die psychoanalytisch begründeten Verfahren ist das nicht unbedingt der wesentliche Erfolgsindikator. Es wurden Studien beschrieben, bei denen eine Erhöhung der Krankheitsfehlzeiten von Patient*innen als Therapieerfolg gewertet wurden - die Patient*innen hätten durch die Psychoanalyse gelernt, sich nicht mehr überhöhten Leistungsansprüchen zu stellen (Lazar et al. 2006).

 

Wann kann man bei Kindern und Jugendlichen eine Psychotherapie beenden? Das Lehrbuch der Psychotherapie zum Thema psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie äußert sich so: "Die Aufnahme geregelter Arbeits- oder Lernverhältnisse, die heterosexuelle Objektfindung" (Hopf & Windaus 2019). Auch hier erkennt man grundlegende Unterschiede in der zugrundeliegenden Theorie

 

Strukturierung der Behandlung: Verhaltenstherapeut*innen arbeiten meistens nach einem strukturierten Behandlungsplan, welcher auf der Diagnose von Patient*innen aufbaut. Hingegen besteht "auf der Seite psychodynamisch orientierter Kliniker und Forscher oft eine Abneigung gegenüber <Therapiemanualen>" (Beutel et al. 2020).


Beispiele aus meiner Praxis

Beispiel für einen praktischen Unterschied aus meiner beruflichen Tätigkeit: Die Eltern eines 8-jährigen Jungen mit einer Aufmerksamkeitsdefizits-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erschienen in meiner psychotherapeutischen Sprechstunde und berichteten, dass sie schon Termine bei einer tiefenpsychologischen Behandler*in hatten. Diese habe die Eltern informiert, sie würde davon ausgehen, die ADHS sei durch ein emotionales Geburtstrauma verursacht.

 

Das Lehrbuch der Psychotherapie - Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Hrsg. Hopf & Windaus 2019) verbreitet Zweifel an der <<vorherrschenden kinderpsychiatrischen Lehrmeinung>> über ADHS. Es handele sich lediglich um eine Meinung, wenn man vom biopsychosozialen Krankheitsmodell und einer multifaktoriellen Verursachung bei ADHS ausgehe, wobei biologische Faktoren eine grundlegende Rolle spielen und psychosoziale Faktoren die Ausprägung der Problematik moderieren. Die Tiefenpsychologie und Psychoanalyse sehen andere Ursachen für ADHS: Eine <<primäre Neurotisierung>>. Die Symptome einer ADHS seien <<unspezifisch>>, weshalb Nichttiefenpsychologen falsche Diagnosen stellen würden. Man müsse herausfinden, was tatsächlich hinter dem Symptom stecke. Oft würden bei ADHS <<unbewusste psychische Konflikte zugrunde liegen>>. Die Therapie gilt aber als schwer: <<Der Kinderanalytiker muss versuchen, den bedrohlichen, unberechenbaren Attacken seiner Patienten standzuhalten, er muss überleben>>. 

 

Dr. Johannes Streif, Mitglied von ADHS Deutschland e.V. hat einen Artikel über Über Sinn und Unsinn alternativer Heilverfahren bei ADHS verfasst (ADHS: All Das Hilft Selten). Er beschreibt darin Probleme bei der <<Diagnostik und Therapie der ADHS auf Grundlage tiefenpsychologischer Konzepte>>: Es gibt einen <<Mangel an anerkannten und auch nachvollziehbaren wissenschaftlichen Methoden>> bei den psychoanalytisch orientierten Verfahren. Es prägen <<zahllose vereinzelte Spekulationen>> die psychoanalytischen Konzepte. Man müsse feststellen, dass sie <<auf falschen Annahmen>> beruhen und eine tiefenpsychologische / psychoanalytische Therapie daher nicht mehr nutzen könne als über den Placeboeffekt hinaus.

 

Diagnostik: Die meisten Patient*innen, die neu in meine Praxis kommen, haben bereits an anderer Stelle eine Diagnostik / Behandlung erhalten. Zur Diagnosestellung nutze ich grundsätzlich standardisierte Interviews, die exakt die Kriterien der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) abbilden. In vielen Fällen weichen die von mir gestellten Diagnosen von den gestellten Diagnosen tiefenpsychologischer Kolleg*innen ab. Tiefenpsycholog*innen verstehen Symptome oftmals als Ausdruck tiefergehender Konflikte und nutzen daher die OPD-KJ-2 als "diagnostisches System für das Kindes- und Jugendalter" (S. 13). Die OPD-KJ-2 beruht auf "subjektiven Evidenz" (S. 16). Symptome psychischer Störungen werden hermeneutisch betrachtet (S. 23). Laut Lehrbuch der Psychotherapie - Psychoanalytische und tiefenpsychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Hrsg. Hopf & Windaus 2019) ist die Diagnostik nach der ICD "als Ergänzung zu sehen" (S. 352).


Psychodynamisches Vorgehen: Illustration 1

Das nachfolgende Lernvideo ist eine kurze Demonstration einer psychodynamischen Therapiesitzung in einer Klinik. Die Patientin berichtet ihrer Psychotherapeutin, dass sie beim Mittagessen und mit der Mitpatientin "Julia" Probleme hatte. Die Therapeutin spürt eine Übertragung und sagt:

 

"Ich merke das: Wie sehr Sie sich wünschen, dass ich den Streit für Sie löse (...) Das wäre Ihnen am liebsten: Dass ich das für Sie löse (...) Ja. Vielleicht ist das auch, weil da so 'ne große Sehnsucht in Ihnen drin ist, dass mal jemand für Sie eintritt."


Psychodynamisches Vorgehen: Illustration 2

Das nachfolgende englischsprachiges Video zeigt ein Rollenspiel, das zwei Ebenen einer psychodynamischen Therapiesitzung demonstriert. Gezeigt werden:

 

1. Die Rolle, die der Psychotherapeut Vic Sedlak seinem Patienten Peter zuweist:

  • Der Patient wird gebeten, über Kindheitserinnerungen zu sprechen ("Tell me something about your background. You know, your parents. What was it like for you?"). 
  • Der Patient wird gebeten, frei das zu sagen, was ihm in den Sinn kommt ("I would really just like you to say whatever comes into your mind").

2. Das Denken und Handeln des Psychotherapeuten wird durch seine psychodynamischen Theorie geleitet:

  • Der Therapeut erkennt, dass die momentane Problematik des Patienten verursacht ist durch vergangene biographische Erfahrungen ("In my mind that was very tied up with his history").
  • Der Therapeut erkennt, dass ein unbewusster Konflikt verantwortlich ist für das Leiden des Patienten ("There must be a conflict going on inside him").
  • Der Therapeut erkennt, um welchen unbewussten Konflikt es sich handelt ("He was one of those pepole who unconsciously felt very guilty about being successful").
  • Das Leiden des Patienten soll verringert werden, indem der Patient eine tiefere Einsicht bekommt in diesen unbewussten Konflikt ("The theory of change there is one based on insight"; "help the client to develop a deeper understanding of inner conflicts").
  • Der Therapeut spürt die Übertragung: Der Patient wünscht sich, im Therapeuten seinen Vater wiederzuentdecken ("He was hoping to find in me probably the father...").
  • Der Therapeut fühlt die Gegenübertragung: Er fühlt sich in einer väterlichen Rolle dem Patienten gegenüber ("I was actually feeling rather paternal towards him").

Hierdurch erkennt man die grundlegenden Unterschiede zu den Standards der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT). In einer KVT gibt es immer diese Bestandteile: Psychoedukation; gemeinsame Erarbeitung eines biopsychosozialen Störungsmodells; Erstellen von Verhaltensanalysen mit Betrachtung mehrerer Verhaltensebenen; Unterscheidung zwischen prädisponierenden, auslösenden, aufrechterhaltenden Faktoren; Aufstellen operationalisierter Therapieziele; gemeinsame Erörterung spezifischer Veränderungsmethoden etc.


Tiefenpsychologisches Vorgehen am Beispiel "Soziale Phobie"

Angststörungen (F40 & F41 ICD-10) sind die mit Abstand häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland, berichtet die DPtV in ihrem Report Psychotherapie 2021. "In den aktuellen medizinischen Behandlungsleitlinien von Angststörungen werden inzwischen z. B. in Großbritannien in den NICE-Guidelines psychoanalytische Verfahren nicht mehr als evidenzbasiert empfohlen" (Beutel et al. 2020). Dennoch "ist die psychodynamische Therapie eine der Behandlungsformen, die in der klinischen Praxis zur Behandlung von Angststörungen am häufigsten angewendet wird" (Leichsenring et al. 2015). 

 

Psychodynamische Ansätze sehen die psychischen Ursachen einer Sozialen Angst zum Beispiel so:

  • Der Patient habe den Wunsch nach Akzeptanz und Aufmerksamkeit; der Patient hat aber Eltern, die seinem Bedürfnis nach Akzeptanz und Aufmerksamkeit nicht ausreichend nachgekommen seien; der Patient schämt sich für sein Bedürfnis nach Akzeptanz und Aufmerksamkeit; deswegen vermeide der Patient zwischenmenschliche Situationen (Gabbard, 1992: Psychodynamics of panic disorder and social phobia).
  • In der Familie des Patienten gebe es ein "beschämendes" Geheimnis. Zum Beispiel sei die Mutter des Patienten alkoholkrank; der Patient identifiziere sich aber mit seiner Mutter; der Patient habe Angst, sich in zwischenmenschlichen Situationen so zu verhalten, wie seine Mutter; der Patient habe deswegen Angst, sich beschämend zu verhalten (König 1981: Angst und Persönlichkeit. Anwendungen des Konzepts vom steuernden Objekt).

In einer TP kann der Fokus darauf liegen, das "Zentrale Beziehungskonfliktthema" von Patient*innen "durchzuarbeiten": Es besteht aus...

(1) Den Wünschen von Patient*innen in zwischenmenschlichen Situationen.

(2) Dem Verhalten anderer Menschen.

(3) Der Reaktion von Patient*innen hierauf.

 

Wenn tiefenpsychologische Therapeut*innen ihre Patient*innen darauf hinweisen, "dass es für den Erfolg der Therapie notwendig ist, sich den Angst auslösenden Situationen gestuft auszusetzen" (Leichsenring et al. 2015), dann ist das eine Gemeinsamkeit zu einer kognitiv-behavioralen Verhaltenstherapie (KVT). Jedoch würde man in einer KVT zusätzlich die Therapiepraxis verlassen, um auf bestimmte Weise Expositionen in vivo durchzuführen.


Die S3-Leitlinie Angststörungen (gültig von 2014 bis 2019; aktuell in Überarbeitung) besagt:

  • Patient*innen mit einer sozialen Phobie soll eine psychodynamische Psychotherapie angeboten werden, wenn sich eine KVT nicht als wirksam erwiesen hat, nicht verfügbar ist oder wenn eine diesbezügliche Präferenz des informierten Patienten besteht.
  • Patienten mit einer sozialen Phobie soll eine KVT angeboten werden.

Stellungnahme zur psychodynamischen Therapie

Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie bewertet in Deutschland Psychotherapieverfahren:


Literatur

Beutel et al. (2020): Psychodynamische Psychotherapie. Störungsorientierung und Manualisierung in der therapeutischen Praxis

 

Fiedler, P. (Herausgeber) (2012): Die Zukunft der Psychotherapie. Wann ist endlich Schluss mit der Konkurrenz?

 

Leichsenring, F. et al. (2015): Soziale Phobie. Psychodynamische Therapie

 

Macho, S. (2016): Wissenschaft und Pseudowissenschaft in der Psychologie

 

Zimmer, D. E. (1990): Tiefenschwindel. Die endlose und die beendbare Psychoanalyse. Leseprobe

 

Mayer, A. (2020): Sigmund Freud zur Einführung

 

Tögel, C. & Zerfaß, U. (Herausgeber): Sigmund-Freud-Gesamtausgabe

 

Weissweiler, E.  (2006): Die Freuds. Biographie einer Familie.

 

Kollbrunner , J. (2001): Der kranke Freud. Rezension von Hans-Jürgen Heinrichs


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