Diagnostische Interviews

Um deinen Gesundheitszustand bewerten zu können, stelle ich dir gezielt einige Fragen (Döpfner & Petermann 2012). Denn die Diagnostik psychischer Störungen kann sich kaum auf objektive Fakten stützen: Es gibt dazu in der Regel keine objektiv messbaren Parameter wie Laborwerte. Stattdessen beruht die Diagnostik zu großen Teilen auf den Angaben von Patient*innen, ihren Bezugspersonen und den Bewertungen der diagnostizierenden Person.

 

In der Psychotherapeutischen Sprechstunde nutze ich das Explorationsschema für Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Döpfner & Petermann 2012). Zur genaueren Diagnostik kommen strukturierte Interview zum Einsatz.


Die Notwendigkeit für den Einsatz strukturierter Interviews

Die psychologische Forschung zeigt, dass bei der Bewertung des Gesundheitszustandes von Patient*innen viele Urteilsfehler (kognitive Fehler) auftreten können. Es konnte in Studien gezeigt werden, dass durch die Nutzung von strukturierten Interviews die Zuverlässigkeit von Diagnosen deutlich erhöht wird. "Damit wurden wesentliche Fehlerquellen beseitigt und die Voraussetzungen für reliable und indirekt auch valide kategoriale Diagnosen geschaffen" (Margraf & Schneider 2009). Durch ein solches Interview wird also sichergestellt, dass mehrere Diagnostiker*innen zum selben Ergebnis kommen (Interrater-Reliabilität).

Störungsübergreifende strukturierte Interviews


KINDER-DIPS

Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (KINDER-DIPS). Das Interview besteht aus zwei Teilen:

 

(1) Der erste Teil richtet sich an die Eltern von Kindern und Jugendlichen: Er umfasst den Interviewleitfaden (Seite 1 bis 131) und den Protokollbogen (Seite 132 bis 187).
(2) Der zweite Teil richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 8 und 18 Jahren.

 

Erfasst werden diese Störungen:

  • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
  • Disruptive, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen:
    Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
    Störung des Sozialverhaltens
  • Tic-Störungen
  • Angststörungen:
    Störung mit Trennungsangst
    Spezifische Phobie
    Soziale Angststörung
    Selektiver Mutismus
    Generalisierte Angststörung
    Panikanfall
    Panikstörung
    Agoraphobie
  • Zwangsstörung
  • Trauma- und belastungsbezogene Störungen:
    Traumascreening
    Posttraumatische Belastungsstörung
  • Ausscheidungsstörungen:
    Enuresis, Enkopresis
  • Depressive Störungen:
    Major Depression
    Persistierende Depressive Störung (Dysthymie)
    Disruptive Affektregulationsstörung
  • Suizidscreening
  • Schlaf-Wach-Störungen:
    Insomnie
    Hypersomnie
    Alptraum-Störung
    NREM-Parasomnien
  • Essstörungen:
    Anorexia Nervosa
    Bulimia Nervosa
    Binge-Eating-Störung
  • Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch (Screening)
  • Nicht-organische Psychose (Screening)
  • Allgemeine Anamnese

Psychopathologisches Befund-System für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D)

Der psychopathologische Befund fasst die Ergebnisse der Diagnostik zusammen. Für das Erwachsenenalter ist das AMDP-System der Standard. Für das Kindes- und Jugendalter muss das Befund-System "breiter angelegt werden als das AMDP-System für Erwachsene, das vor allem psychotische Störungen besonders differenziert erhebt (...) Demgegenüber sind externale Störungen (hyperkinetische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens)" (Döpfner et al. 1999) bei Kindern und Jugendlichen häufig. 

 

Das Psychopathologische Befund-System für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D) dient der Erfassung von 98 Merkmalen psychischer Störungen. Es ist ein halbstrukturiertes Interview und besteht aus einen Fragenkatalog in zwei Leitfäden:

  • Leitfaden zur Exploration von Patient*innen. Zum Beispiel: "Hast du viel Streit?" / "Hast du vor bestimmten Dingen oder Situationen Angst oder bist du ganz allgemein eher ängstlich?"
  • Leitfaden zur Exploration der Bezugspersonen. Zum Beispiel: "Ist P. ein sehr zurückhaltendes Kind?" / "Haben Sie den Eindruck, dass P. immer bestimmen will, was andere tun und lassen sollen?"

SCID-5-CV

Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-5-Störungen - Klinische Version (SCID-5-CV): Das SCID-5-CV kann für das Erwachsenenalter eingesetzt werden. Dauer: Üblicherweise 45 bis 90 Minuten, in komplexen Fällen bis zu 3 Stunden. Es umfasst diese Module:

  • A Affektive Episoden (Major Depression Disorder; Manische Episode; Hypomane Episode; Persistierende Depressive Störung)
  • B Psychotische und assoziierte Symptome (Wahn; Halluzinationen etc.)
  • C Differenzialdiagnose Psychotischer Störungen (Schizophrenie etc.)
  • D Differenzialdiagnose Affektiver Störungen (Bipolar-I-Störung; Bipolar-II-Störung etc.)
  • E Störungen durch Substanzkonsum (Alkohol; Sedativa-, Hypontika-, Anxiolytikakonsum etc.)
  • F Angststörungen (Panikstörung; Agoraphobie; Soziale Angststörung; Generalisierte Angststörung etc.)
  • G Zwangsstörung und Posttraumatische Belastungsstörung
  • H Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
  • I Screening für andere aktuelle Störungen (prämenstruelle dysphorische Störung, spezifische Phobie, Trennungsangst, Horten, Körperdysmorphe Störung, Trichotillomanie, Dermatillomanie, Insomnie, Hypersomnie, Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa oder Binge-Eating, Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme, somatische Belastungsstörung, Krankheitsangst, intermittierende explosible Störung, Störung durch Glücksspiel)
  • J Anpassungsstörung.

Störungsspezifische strukturierte Interviews

Beispiele für störungsspezifische strukturierte Interviews sind nachfolgend aufgeführt.

Persönlichkeitsstörungen


SCID-5-PD

Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-5-Persönlichkeitsstörungen (SCID-5-PD): Dieses halbstrukturierte Interview kann für das Erwachsenenalter eingesetzt werden.

 

"Der Begriff der Persönlichkeitsstörung ist umstritten, da er suggeriert, dass der ganze Mensch <gestört> sei" (Heßler-Kaufmann & Neudeck 2020). Persönlichkeitsstörungen "umfassen tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen (...) zeigen" mit "Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen" - das besagt die ICD-10 (wiki/ICD-10). "Sie beginnen in der Kindheit oder Adoleszenz". Dennoch sei eine Diagnosestellung vor dem Alter von 16 Jahren "wahrscheinlich unangemessen".

 

Das SCID-5-PD behandelt die zehn Persönlichkeitsstörungen des DSM-5 (wiki/DSM-5):

  1. Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
  2. Dependente Persönlichkeitsstörung
  3. Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
  4. Paranoide Persönlichkeitsstörung
  5. Schizotype Persönlichkeitsstörung
  6. Schizoide Persönlichkeitsstörung
  7. Histrionische Persönlichkeitsstörung
  8. Narzisstische Persönlichkeitsstörung
  9. Borderline-Persönlichkeitsstörung
  10. Antisoziale Persönlichkeitsstörung

Vor der Durchführung des Interviews kann zusätzlich der Persönlichkeits-Screeningfragebogen (SCID-5-SPQ) von Patient*innen ausgefüllt werden.

 

Im DSM-5 können Persönlichkeitsstörungen in Cluster eingeteilt werden:

  • Cluster A (sonderbar, exzentrisch): Paranoide, Schizoide, Schizotypische Persönlichkeitsstörung
  • Cluster B (dramatisch, emotional): Borderline-, Histrionische, Antisoziale, Narzisstische Persönlichkeitsstörung
  • Cluster C (ängstlich, vermeidend): Vermeidende, Dependente, Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Essstörungen

Strukturiertes Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen (SIAB): Das Inventar dient der Erfassung von Essstörungssymptomne. Es besteht unter anderem aus einem 87 Fragen umfassenden Interview für Experten (SIAB-EX). Eingesetzt werden kann es bei Jugendlichen vor allem bei Erwachsene.

 

Eating Disorder Examination (EDE): Hierbei handelt es sich um ein strukturiertes Experteninterview zur Klassifikation und zur Erfassung der spezifischen Psychopathologie von Essstörungen. Es ist für diagnostische Anwendungen bei Erwachsenen und Jugendlichen geeignet.

 

Eating Disorder Examination für Kinder (ChEDE): Dies ist die für Kinder und Jugendliche von 8 bis 14 

Jahren adaptierte Version des EDE.